Was anfänglich mal ein Geheimtipp mit reinen Fun-Charakter war ist mittlerweile in der Läuferszene gut bekannt – der Lauf zum Jahresabschluss bei dem das Wetter keine Rolle spielt. Die Rede ist vom LGA-Indoor-Marathon, einer Veranstaltung mit ihrem ganz eigenen Flair. Der Lauf findet nämlich als Abwechslung nicht in einer Sportstätte statt sondern im Gebäude des TÜV-Rheinland. Ein recht großer Komplex mit wunderherrlich langen Gängen. Eine Runde kommt auf 767m – allerdings gibt es keinen strikten Rundkurs, sondern es wird auf 2 Ebenen gelaufen – als Bonbon gibt es daher noch 2 Treppenhäuser: Einmal pro Runde eine Etage nach unten und natürlich auch wieder rauf. Insgesamt kommen so 455 Höhenmeter zusammen.
Die Organisation ist ein eingespieltes Team, die Startplätze sind aufgrund des Breite der Flure und der Treppenhäuser begrenzt. Nur 120 Einzelstarter über die Halb- oder Marathon-Distanz sind zugelassen, zudem gibt es 30 Staffeln mit je 8 Teilnehmern. Wie ich erfahren habe, ist die Verteilung der Rundenzahl bei dieser Veranstaltung alleine Sache der Staffel – auch ein kleiner Unterschied zu den sonst meist festgenagelten Wechselzonen an der Strecke. Bereits am Samstag hole ich meine Unterlagen ab, zusammen mit einer Streckenbesichtigung – meine Freundin begleitet mich dieses Jahr und kann sich noch nicht ganz vorstellen was ich da Verrücktes vorhabe. Nach einem Rundgang will sie sich aber wenigstens auch mal versuchen – Fazit: Laufen muss man trainieren und die Treppen sind eine echte zusätzliche Belastung.
Am Sonntag treffe ich dann auch die üblichen Verdächtigen, Helga und ihr Mann Heinrich sind wieder als Team dabei – Helga läuft, Heinrich kümmert sich um die Fotodokumentation, wie weit er dabei geht habe ich in Ulm gesehen – diesmal muss er aber sicherlich nicht frieren – erstens ist das Wetter wunderschön und für November und eigentlich erst recht für einen Indoor-Marathon viel zu warm. Thomas und seine Partnerin Susan treffen wenig später ein, hier sind die Rollen männlich/weiblich genau anders herum verteilt – Thomas nimmt sich auch dieses Jahr wieder die Halbmarathonstrecke vor.
Kurz vor dem Start gibt es nochmals letzte Instruktionen – nochmals wird auf das Überholverbot hingewiesen – aber keine Bange – das gilt nur in den Treppenhäusern – dort ist es einfach zu eng.
Pünktlich um 11:00h geht es dann auch los – die Halbmarathonis starten im Untergeschoss also etwas versetzt zu den Marathonis, aber auch wir starten nicht an der Zielmarkierung wie bei anderen Läufen, damit die 42,195km zusammen kommen müssen wir noch rund 50m vors Ziel. Kurz vor dem Start bekommt man so erstmals ein Gefühl wie dicht gepackt es in solchen Gängen werden kann. Gut wenn man weiß, dass sich nach und nach doch alles etwas verteilt und die Staus sich in aller Regel auf die Treppenhäuser begrenzen – so es sie denn überhaupt gibt.
Die ersten Runden laufe ich wie üblich etwas stark gepusht von der guten Atmosphäre, so richtig Ruhe und Konstanz will gar nicht einkehren – man kommt ja auch alle 767m an der Moderation vorbei, ebenso an den Fan, die alle lautstark anfeuern. Erstaunlich viele sind mit Klemmbrettern bewaffnet auf denen Rundenzahlen stehen, die Profi-Coaches haben natürlich auch noch eine Stoppuhr dabei und überwachen peinlich genau die Rundenzeiten ihrer Athleten – bei welcher anderen Veranstaltung gibt es schonmal die Möglichkeit ein so detailiertes Leistungsprofil zu erstellen? Auch bei mir ist bereits in den ersten Runden etwas komisch – ich habe Durst, etwas das mir sonst oftmals erst zu spät richtig bewusst wird – andererseits will ich nicht gegen Ende des Laufs irgendwann mal kurz in Büsche – äh aufs Klo – verschwinden müssen, auch diese sind ja jede Runde in mehrfacher Anzahl vorhanden … Dennoch greife ich schon in der vierten Runde das erste Mal beim ISO-Getränk zu – geschmacklich ist es für mich ganz ok – nur ob mein Magen das Zeug auf die Dauer auch so gut findet weiß ich mal wieder nicht.
Die Runden ziehen gemütlich vorbei – ich schaue dabei regelmäßig auf meine Pulsuhr – nur nicht überhasten – aber genau das wirft mir die Anzeige einige Male vor – wobei ich feststelle, dass die Pulskurve aussieht wie eine Reihe Haie hintereinander weg – jedesmal beim Treppensteigen aufwärts geht der Puls weit nach oben, bis man dann wieder an der Treppe ankommt ist er wieder im Normalbereich, oder sollte es zumindest sein. Ich merke mir in Runden in denen ich mich gut fühle die ungefähren Pulswerte zu markanten Punkten – am Plüschtier vor dem Labor für Spielgeräte, kurz nach dem Treppenhaus abwärts und kurz nach der Versorgungsstelle. So kann ich mich recht gut selbst einteilen.
Meine Freundin steht anfangs auch fleißig an der Strecke, feuert an und hält mir alle 5 Runden ein Schild mit der Rundenzahl hin, für den Fall das ich auf der Leinwand mal wieder nicht schnell genug geschaut habe wie viele Runden ich denn schon hinter mir habe. Ich habe mich ganz bewusst gegen das verbissene Zählen der Runden entschieden – das demotiviert mich erfahrungsgemäß mehr als es bringt. Nach einiger Zeit machen sich die Fans von Helgas Lauffreunden dann etwas dünne – klar, es ist Mittagszeit und die Kantine der LGA fährt eine Sonderschicht für die Besucher. Auch die Moderation gibt gute Tipps zur Läufer-Ernährung: Wie wäre es mit Wiener Würstchen und Senf? Ich schiebe den Gedanken recht schnell beseite – und halte mich an das was ich schon seit einigen Runden praktiziere – alle 3-4 Runden etwas Trinken, mal ISO, mal Wasser (wenn mir der ISO-Geschmack grad mal wieder den Mund verklebt), und alle 7-8 Runden ein Stück Banane. Eine derart durchgängige und regelmäßige Energiezufuhr gibt es sonst auch bei kaum einem anderen Lauf, es sei denn man hat wie in Ulm einen Begleitradler, der einen jederzeit versorgen kann.
Ohne die regelmäßige Angabe der Runden laufe ich erstaunlich entspannt durch die Gänge, ungefähr alle 6-7 Runden überhole ich Helga, wir checken jeweils kurz gegenseitig ab ob alles noch soweit passt und schon geht es weiter, jeder mit seiner Geschwindigkeit. Insgesamt habe ich das Gefühl dieses Jahr etwas schneller unterwegs zu sein, zumindest wenn ich nach den Überrundungen durch die auffäligen Läufer gehe, Dietmar Mücke – auch dieses Jahr wieder als Pumuckl verkleidet und barfus – saust einige male an mir vorbei, ich erkenne ihn jedesmal schon vorher, das charakterischtische Geräusch von nackten Füßen auf dem Boden kündigt jede Überrundung an. Auch Erwin (Lionheart), wie immer unterwegs mit Hut, und seine Partnerin Julia überholen mich insgesamt nur 4 oder 5 Mal. Das motviert mich durchzuhalten. Bisher auch keine Probleme bei den Treppen, noch keine Anzeichen von Erschöpfung wie ich sie letztes Jahr hatte.
Irgendwann will ich es doch wissen und konzentriere mich auf die Leinwand – mein Gefühl sagt mir: 22-24 Runden, da bist du irgendwo – die Zeitmessung weiß es besser – breits 28 Runden hab ich hinter mir und die das nach nicht ganz zwei Stunden. Irgendwie auch eine Art Erleichterung – zudem wird es in den Gängen langsam luftiger – klar, denn nach und nach erreichen die Halbmarathonis ihr Ziel (27 Runden haben die zu bewältigen). Leider ist es nach der Info über die Runden denn auch mit der inneren Ruhe und der Trance des leichten Laufens vorbei – der Kopf drängt sich mehr und mehr in den Vordergrund und die Laufmuskulatur meldet sich auch das eine oder andere Mal mit dem Bedarf nach Entlastung an. Der Kopf schiebt das aber immer wieder beiseite.
Ich versuche mich ein wenig abzulenken – zum Beispiel überlege ich, ob das Wischteam, welches den Bereich nach der Getränkeversorgung nach besten Kräften trocken hält (man verschüttet doch immer etwas wenn man im Laufen trinkt), an diesem Wochenende wohl auch nach gewischten Kilometern Flur bezahlt wird, oder vielleicht doch eher nach ausgegebenen Bechern. Zudem analysiere ich in jedem Treppenhaus wie die einzelnen Läufer die Treppen bezwingen – es gibt die unterschiedlichsten Varianten wie ich feststellen muss. Beim Abwärts gibt es die Vollauftreter, die jede Stufe vollständig mitnehmen, die Häufigkeit dieser Gangart nimmt im Laufe des Marathons zu, zum anderen die sportlichen Hüpfer, die soviel Schwung wie möglich mitnehmen und die letzten beiden Stufen in einem Schritt nehmen. Dabei wird der Haltegriff des Geländers effektiv genutzt – mit der sonst eher schwächer ausgeprägten Armmuskulatur halten sich die Läufer daran fest und bezwingen so die Haarnadelkurve. Der dritte Typ ist meiner: ich tippe wie viele andere die Stufenkanten nur mit dem Ballen an, es ergibt sich eine Art Watscheln oder Tippeln, man rutscht sozusagen kontrolliert die Treppen hinunter – wohl eine Angewohnheit aus der Studienzeit in Mannheim in der ich regelmäßig die Treppe als Alternative zum Aufzug in den 10 Stock genommen habe und natürlich auch wieder runter.
Beim Treppaufsteigen gibt es auch unterschiedliche Techniken – die nicht immer auf Gegenliebe stoßen, aber jede Gangart wird großzügig tolleriert. Sofern es möglich ist nehme ich den Schwung des Laufens mit, das bringt mich schon mal die ersten zwei bis drei Stufen nach oben – danach versuche ich nach Möglichkeit im Fluss zu bleiben – wenn es denn geht und nicht der gehende oder kletternde Laufstil des Vordermanns einen zur gleichen Gangart zwingt. Ich stelle dabei fest: Das Gehen auf den Treppen entspannt zwar etwas, um so heftiger sind allerdings die Hemmnisse beim Wiederanlaufen im Gang. Ich beiße mich jedesmal durch, nur nicht ins Gehen verfallen.
Eine weitere Veränderung an der Strecke bringt mich wieder auf neue Gedanken und eine Zusatzbeschäftigung. Mit dem Ende des Halbmarathons haben die Läufer der Down-Syndrom-Staffel begonnen den Marathon als Team zu bezwingen – je ein Coach begleitet die jungen Läufer und motiviert diese. Teilweise ist das gar nicht nötig und die Läufer rennen den Coaches fast schon davon und müssen wieder eingebremmst werden – auch vor den Treppenhäusern wird dabei nicht Halt gemacht, obwohl das eigentlich so abgestimmt ist – dennoch ernten die Teilnehmer jede Menge Respekt, viele nicht ganz so verbissene Läufer (wie auch ich) applaudieren beim Überholen und helfen bei der Motivation.
Mittlerweile liegt die Runde 40 hinter mir – seit 5 Runden habe ich doch angefangen zu zählen – rückwärts versteht sich. Ich verfluche mich dafür, denn einmal angefangen hört man damit nicht mehr auf und die Konzentration aufs Laufen und das Genießen ist dahin. Vielmehr artet es jetzt mal wieder in den Kampf „Head over feet (ein Song von Alanis Morisette)“ aus – der Kopf überrdet den Unterbau jede Runde – man motiviert sich, dass es ja nicht mehr so weit ist. Noch 12 Runden sind es, im Kopf beginnt sich das Bild einer rückwärtslaufenden Analog-Uhr zu bilden – mit jeder Runde schiebe ich den Zeiger gedanklich eine zwölftel Umdrehung nach hinten, Ziel sind dabei immer die markanten Punkte 9, 6 und 3 Runden die noch vor mir liegen. Wichtig wird dabei vor allem das Treppenhaus bergan. Mittlerweile fordert das nämlich seinen Tribut. In Runde zehn vor dem Ende machen sich leichte Krampfansätze in der Kniekehle bemerkbar – ich laufe die Runde dann bewusst mit streckenden Schritten und kippe zwei Becher Iso in mich hinein. Der große Krampf ist somit abgewendet.
Noch 5 Runden – nicht mehr ganz 4km – ich überlege wo ich wohl auf meinen Heimatstrecken gerade wäre, und zähle laut vor jedem Anstieg: „Noch x Mal da hoch, wenn du oben bist, ist es schon wieder eines weniger“. Noch 2 Anstiege: Ich will den mit 71 Jahren ältesten Teilnehmer den Vortritt am Treppenhaus lassen, aber er winkt ab „du hast doch noch mehr Energie, und wahrscheinlich weniger Runden vor dir“ – genau genommen ist es noch etwas mehr als eine, aber nur noch einmal das Treppenhaus. Er hat noch 10 Runden vor sich. Ich bin auf der letzten Runde schon versucht etwas Gas zu geben, auch motiviert durch die Rundenanzeige aus dem Fanblock und kräfigen Anfeuerungrufen aus dem Publikum. Dennoch lasse ich mich nicht gehen – ich weiß wie hart sich der letzte Anstieg anfühlen kann, wenn man seine Reserven verspielt hat. Auf der unteren Ebene fehlt mir auch noch irgendwie die Lust und die Kraft. Mein angepeiltes Ziel von 4 Stunden liegt sowieso schon fast 10 Minuten in der Vergangenheit – vor knapp einer Stunde ist der Sieger durchs Ziel gelaufen – und er heißt diesmal nicht Hannes, soviel habe ich mitbekommen. Die letzte Treppe – freie Bahn, ich nehme sie mit etwas Schwung und beiße beim Anlaufen die Zähne fest aufeinander – zwei Läufer in Sichtweite – einen will ich wenigstens noch überholen. Das gelingt mir auch – den Gang runter, um die Kurve, durch die Zeitmessung und endlich ist es geschafft. So richtig glauben will ich das noch nicht – aber die Zeitmessung gibt mir die Bestätigung per Handzeichen: „Schluss, aus, fertig!“. Ich gehe noch ein wenig, meine Freundin kommt mir entgegen, schon ein tolles Gefühl, auch wenn der Körper sich jetzt rächt – kurz nach der Entlastung melden sich alle unterdrückten Schmerzen – insbesondere die Oberschenkel geben mir klipp und klar zu verstehen, dass es wohl der Treppen etwas zu viele waren.
Nach etwas Ruhepause auf dem Fußboden gehe ich zur Medallienausgabe, hole mein T-Shirt und dann geht es mal wieder ein Treppenhaus runter – diesmal zu den Duschen und es melden sich noch mehr Muskeln – irgendwie tut grad alles weh und mir ist in der Zugluft des Treppenhauses doch etwas frisch. Allerdings muss ich mich dennoch etwas sputen, denn meine Freundin muss noch zum Bahnhof, sonst verpasst sie dort ihre Mitfahrgelegenheit. Also nur ein kurzer Imbiss aus etwas ISO, Wasser und Tee, zudem ein paar Riegel. Der Gang zur U-Bahn ist schon fast wieder normal möglich, auch wenn ich ein wenig steif laufe und die Treppen eine echte Herausforderung sind – aber auch ich habe meinen Stolz – Fahrstuhl kommt nicht in die Tüte.
Auf die Weise verpasse ich leider Helgas Zieleinlauf, aber als ich wieder zurück an die LGA komme, ist sie schon geduscht und das Team sucht mich – Handy habe ich zwar dabei, aber keiner hatte meine Nummer (letzten Endes dann doch, denn sie prangt ja auf meinem Auto, der Anruf erreicht mich aber als ich gerade auf den Parkplatzt komme). Zum Carbo-Loading geht es dann noch nach Führt etwas essen, bevor ich mich auf den Heimweg mit dem Auto mache. Auf der Fahrt habe ich schon wieder Hunger und vertilge nebenher noch ein paar Teile Gebäck vom Frühstück. Auch als ich in Mannheim ankomme habe ich immer noch Hunger – also nochmal kochen – an Schlafen ist trotz Erschöpfung irgendwie aber grad nicht zu denken – meine Körper meint wohl es müsste jetzt noch knappe 60km so weiter gehen, wie das in Ulm der Fall ist.
Heute ist Mittwoch, die erste Trainingseinheit mit 10km habe ich gestern absolviert – ebene Strecken gehen schon wieder, nur wenns abwärts geht wird es noch schmerzhaft. Treppenlaufen ist bergauf auch schon wieder möglich, bergab wird es aber auch von Tag zu Tag besser. Merke: Nächstes Jahr doch noch intensiver das Treppenlaufen trainieren, aber dabei sein werde ich wohl wieder. Vielleicht auch einfach weil der Lauf eben nicht so ganz normal ist.